Halle (Saale), 05.06.2024. Insgesamt 91 Werke konnten aus der privaten Sammlung Scarselli erworben werden. 31 Gemälde, 12 Plastiken, 12 Aquarelle und Gouachen, 19 Zeichnungen sowie 16 Grafiken vornehmlich ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler, darunter Elisabeth Ahnert, Theo Balden, Fritz Cremer, Konrad Henker, Heinz Plank, Wolfgang Peuker, Uwe Pfeifer, Theodor Rosenhauer, Horst Sakulowski, Volker Stelzmann und Baldwin Zettl, prägen das Profil der Kollektion. Die Werke stammen aus der Sammlung Scarselli, deren Kernbestand nach dem Tod des Sammlers zum Kauf stand. Das Besondere dieses Konvoluts ist, dass es nahezu passgenau auf die Lücken der bis 1990 aufgebauten Sammlung des Museums zugeschnitten wurde. Der zu Lebzeiten in Weimar ansässige Unternehmer und Sammler erwarb, kuratorisch beraten durch den Galeristen Klaus Hebecker und die Kunsthistorikerin Susanne Hebecker, handverlesen Arbeiten, die den Bogen der Museumssammlung über 1990 hinaus fortspannen und die Dokumentation der Entwicklung einzelner Œuvres von Künstlerinnen und Künstlern ergänzen, fortschreiben und abrunden. Mit dem Erwerb dieses Konvoluts erfährt der Bestand ostdeutscher Kunst seine bedeutendste Weiterentwicklung seit mehr als 30 Jahren. 48 der insgesamt 91 Werke, mithin 53 % des Konvoluts, entstanden in den zurückliegenden drei Jahrzehnten. Die älteste Arbeit schuf Alexander Olbricht um 1908 (evtl. 1912), 14 Arbeiten entstanden zwischen 1927 und 1945, 28 Arbeiten zwischen 1946 und 1989 sowie 48 Arbeiten nach 1990.
Patricia Werner, Geschäftsführerin der Ostdeutschen Sparkassenstiftung: „Ein Weg zum Verständnis der Menschen in Ostdeutschland und ihrer Geschichte führt über ostdeutsche Kunst. Mit diesen Förderungen in diesem Bereich will die Ostdeutsche Sparkassenstiftung dazu beitragen, die Werke ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler im gesamtdeutschen Kontext langfristig sichtbarer zu machen. Daher ist uns gemeinsam mit der Saalesparkasse so wichtig gewesen, den Ankauf der Sammlung Scarselli zu ermöglichen. Lücken im Museumsbestand können auf diese Weise geschlossen und wichtige Positionen ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler dauerhaft gezeigt werden.“
Thomas Bauer-Friedrich, Direktor des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale): „Diese Erweiterung unserer Sammlung ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Unsere Sammlungspräsentation Wege der Moderne endet derzeit mit dem Jahr 1990, weil wir danach keine schlüssige Erzählung aus dem Sammlungsbestand heraus anbieten können, denn das konzeptuelle, strategische Sammeln hörte nach der Wiedervereinigung tragischerweise auf. Das ändert sich jetzt und wir können mit einem Schlag die Entwicklung der ostdeutschen Kunst anhand wichtiger Protagonistinnen und Protagonisten, die bereits in der Sammlung vertreten sind, bis in die Gegenwart aufzeigen. Daraus werden sich für das Museum neue Potentiale ergeben und gelingt uns in einem Segment der Lückenschluss zur Zeitgenossenschaft.“
Mit dem Ankauf ist ein klares Bekenntnis des Museums zur Qualität und Bedeutung der ostdeutschen Kunst verbunden. Die bedeutende Sammlungserweiterung steht in einem engen Zusammenhang mit der Arbeit des Museums in den vergangenen Jahren mit Ausstellungen wie u. a. der Willi Sitte-Retrospektive (2021) und Werkschauen zu Anna Franziska Schwarzbach (2022) und Doris Ziegler (2023) bzw. der erfolgreichen Tagung „Ostdeutsche Kunst: Bestandaufnahme und Perspektiven“ im September 2023, durchgeführt gemeinsam mit der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und dem Dresdner Institut für Kulturstudien, und bedeutet die logische Weiterentwicklung dieses Profils. Das Museum versteht sich als ein Zentrum für die Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Kunst. Grundlage hierfür ist die Geschichte des Museums und seine zwischen 1945 und 1990 entstandene Sammlung.
Zum Hintergrund der Sammlung Scarselli
Die Sammlung entstand in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten in Weimar. Der seit der Wiedervereinigung dort lebende italienische Unternehmer und Sammler Giovanni Scarselli (1945–2019) baute sie in enger freundschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Galeristen Klaus Hebecker und der Kunsthistorikerin Susanne Hebecker auf. Sie berieten den Sammler und seine Frau und unterstützten ihn beim Erwerb der Werke. Der verstorbene Sammler – im Urteil Klaus Hebeckers „eine außergewöhnliche Erscheinung mit einer enormen Bandbreite an Möglichkeiten. Einer der klügsten und sensibelsten Sammler, die ich in meiner beruflichen Ausübung getroffen habe“ – war studierter Sprachwissenschaftler und Geschäftsmann in verschiedenen Branchen – eine Konstellation, die ihn Mitte der 1980er Jahre in die DDR und an den Ort der Weimarer Klassik führte und dort seine Frau finden ließ. Nach wenigen gemeinsamen Jahren in Italien kehrte das Ehepaar unmittelbar nach der politischen Wende 1990 nach Deutschland, nach Weimar, die Heimatstadt seiner Frau, zurück. Auf die gastronomischen Defizite in den neuen Bundesländern unternehmerisch reagierend, gründete er ein italienisches Eiscafé, das er noch über den frühen Tod seiner Ehefrau im Jahr 2014 hinaus erfolgreich führte. Sein waches kulturelles Interesse wurde dadurch nicht geschmälert und führte ihn im Laufe der Zeit u. a. zur Beschäftigung mit der im Osten Deutschlands nach dem Krieg entstandenen bildenden Kunst. Er bemerkte den Widerspruch zwischen seiner eigenen Wahrnehmung und der öffentlichen Bewertung dieses Teils der deutschen Kunstgeschichte. Nach Jahren der gedanklichen Beschäftigung mit diesem Thema, nach dem Besuch verschiedener Ausstellungen in Galerien und Museen und nach den Diskussionen um die Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne 1999 in Weimar verfestigte sich in ihm die Überzeugung, dass in diesem Feld politische Urteile die ästhetischen überlagerten oder gar verhinderten. Nachdem er diese Feststellung für sich als sicher realisiert hatte, begann er – nach zuvor nur seltenen Erwerbungen – konsequent und kontinuierlich eine Sammlung anzulegen.
Nach der Diagnose einer schweren Erkrankung im Jahr 2015 begann Giovanni Scarselli, Vorsorge für sein Erbe zu betreiben, vor allem mit Blick auf den noch minderjährigen Sohn, der nach seinem Tod Waise und sein Alleinerbe ist. Die wesentlichen Teile seiner Kunstsammlung wollte der Sammler als seine ideelle Hinterlassenschaft langfristig der Öffentlichkeit zugänglich machen – im Gedenken an seine Frau und als geistiges Vermächtnis und Leitbild für seinen Sohn. Unter Einbeziehung juristischen Sachverstandes wurde das Ziel verfolgt, einen Kernbestand von etwa 100 Werken in die dauerhafte Obhut des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) zu überführen.
Bedeutung der Sammlung für das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
Das Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt ist eines der bedeutenden Museen für die Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert in Deutschland. Nach einer innovativen, zukunftsorientierten Museums- und Sammlungsstrategie in der ersten Jahrhunderthälfte war es in der ehemaligen DDR eines der relevanten Häuser im ostdeutschen Staat. Trotz die Museumsarbeit immer wieder einschränkender Folgen der Kulturpolitik der staatlichen Organe gelang es den Museumsdirektoren zwischen 1945 und 1990, eine Sammlung aufzubauen, die neben offiziell gewünschten Positionen (Sozialistischer Realismus) auch wichtige Werke von Vertretern sogenannter non-konformer Positionen beinhaltete. Nichtsdestotrotz bzw. gerade deswegen weist die Sammlung in letztgenanntem Bereich Lücken auf. Dies war deutlich geworden, als das Museum 2018 den zweiten Abschnitt seiner neu konzipierten Sammlungspräsentation Wege der Moderne. Kunst in Deutschland im 20. Jahrhundert einrichtete. Zwar lässt sich anhand der vorhandenen Werke die Kunst zwischen 1945 und 1990 facettenreich darstellen; dennoch gibt es Lücken, die sowohl die Qualität der Werke als auch das Vorhandensein bestimmter Positionen betreffen. Im vierten Nachwende-Jahrzehnt ist es heute umso schwieriger, diese Lücken mit einem nicht vorhandenen Ankaufsetat qualitätvoll schließen zu können.
Diese Situation und das konstruktive Bemühen des Museums, sich dieser zu stellen, reflektiert Klaus Hebecker mit Blick auf die Bewahrung der außergewöhnlichen Sammlung, die Giovanni Scarselli zusammengetragen hat: „Dass das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) unter Leitung von Thomas Bauer-Friedrich eben diesen Konformismus immer wieder in entscheidenden Punkten durch die Art der Sammlungspräsentation und Ausstellungen durchbrochen hat, ermöglichte, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Dies war auch der Grund, den Grundstock an Kunst für die geplante Stiftung in Abstimmung mit dem Sammler nicht nur repräsentativ für dessen Sammlung zu gestalten, sondern speziell auf das Museum und dessen erkennbare Bedürfnisse zuzuschneiden.“