Leipzig, 16.11.2023. Evelyn Richter (1930–2021) gilt als eine der wichtigsten deutschen Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung ist ihrem Leben und Werk gewidmet: von der Lehrzeit in Dresden über das Studium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) und ihren Weg in die Freiberuflichkeit – mit Aufträgen von Theatern, Presse, Buchverlagen, dem Gewandhaus und der Leipziger Messe – bis hin zur gefeierten Autorenfotografin und Ehrenprofessorin der HGB. Mit über 150 Schwarzweiß- und Farbfotografien bietet die Ausstellung Einblick in Richters reiches künstlerisches Schaffen. Dabei wird deutlich, unter welchen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen die Fotografin ihre freiberufliche Existenz führte und mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert war.
„In der Ausstellung werden neben Werk und Schaffen Evelyn Richters auch ihre Netzwerke und ihr künstlerisches Umfeld vorgestellt. Die Werke der vier Freundinnen Ursula Arnold, Evelyn Richter, Christa Sammler und Eva Wagner-Zimmermann sind das erste Mal gemeinsam zu sehen“, so Dr. Jeanette Stoschek, Kuratorin und Leiterin des Evelyn Richter und Ursula Arnold Archivs der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im MdbK.
„Als Eigentümerin und Sachwalterin des Lebenswerks von Evelyn Richter und Ursula Arnold ist es der Ostdeutschen Sparkassenstiftung ein besonderes Anliegen, immer wieder auf die Künstlerinnen aufmerksam zu machen. Sie gehören zu den wichtigsten Vertreterinnen der ostdeutschen sozialdokumentarischen Fotografie. Ihr Werk ist für ganz Deutschland von Bedeutung“, sagte Patricia Werner, Geschäftsführerin der Ostdeutschen Sparkassenstiftung.
Evelyn Richters Lebensweg kann in der Ausstellung anhand einer reich illustrierten Biografie nachvollzogen werden. Arbeiten aus den von ihr autorisierten Werkgruppen veranschaulichen das 50 Jahre umspannende Gesamtwerk: Ausstellungsbesucher*innen, Stadtlandschaften, Künstler*innenporträts und Bilder, die auf ihren Reisen, in Zügen und Straßenbahnen entstanden. Hinzu kommt das Thema der künstlerischen Selbstreflexion in Form der Selbstbildnisse. Gleich einem visuellen Tagebuch fotografierte sich die Künstlerin, die nie in einem festen Atelier gearbeitet hat, in spiegelnden Flächen. Oftmals sind auch die sie begleitenden Personen festgehalten.
Die bislang wenig beachteten Auftragsarbeiten, die seit 1955 ihre berufliche Existenz sicherten – darunter Reportagen in Zeitschriften wie Sibylle und Das Magazin – sind in einem weiteren Kapitel zu entdecken. Sie veranschaulichen das thematische Spektrum des Werks mit Schwerpunkten in den Bereichen Musik, Tanz und Kinder sowie der gesellschaftlichen Rolle und Berufstätigkeit von Frauen. In der Gesamtschau erschließen sich die fotografische Entwicklung und die Wechselwirkungen zwischen freier künstlerischer Arbeit und Broterwerb.
Das Medium Fotobuch, das Evelyn Richter ihr gesamtes Fotografinnenleben hindurch begleitete, wird in einem eigenen Ausstellungsraum thematisiert. Exemplarisch werden die Bücher Paul Dessau. Aus Gesprächen (1975) und Entwicklungswunder Mensch (1980) sowie frühe Bildbeiträge zu den Publikationen Das schöne Fachwerkhaus Südthüringens (1956) und Die Tracht der Sorben um Hoyerswerda (1959) gezeigt. Das Fotobuch bot Evelyn Richter ideale Voraussetzungen, um ihr Bildkonzept auszuarbeiten. Die in sich geschlossene Form des Mediums ermöglicht eine stringent durchkomponierte, erzählerische Bildfolge. In langen, akribischen Findungsprozessen erstellte die Fotografin mehrere Klebelayouts. Da Richter bevorzugt seriell arbeitete, ist zu vermuten, dass sie, wären das Medium Fotobuch und die Autorschaft der Fotograf*innen bereits etabliert gewesen, noch weitere Langzeitprojekte in Büchern umgesetzt hätte.
Ein weiteres Ausstellungskapitel ist Evelyn Richter und ihren Künstlerfreundinnen Ursula Arnold (1929–2012), Christa Sammler (*1932) und Eva Wagner-Zimmermann (1928–2015) gewidmet. Im Verlauf ihrer zweijährigen Studienzeit an der Leipziger HGB lernte Richter die Fotografinnen Ursula Arnold und Eva Wagner kennen. Während sie selbst 1955 den Weg der freiberuflichen Fotografin beschritt, ergriff Ursula Arnold 1956 aus wirtschaftlichen Gründen den Beruf der Kamerafrau beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin. Eva Wagner hingegen übersiedelte 1954 mit ihren Eltern in die Bundesrepublik und studierte in Saarbrücken bei Otto Steinert. Nach ihrer Heirat 1957 mit dem Physiker Wolfhart Zimmermann arbeitete sie einige Jahre als freiberufliche Fotografin. Häufig begleitete sie ihren Mann auf seinen Auslandsreisen. Wenn möglich fotografierte sie dabei den Alltag in den Straßen – in Mexiko, Paris und New York.
Die Bildhauerin Christa Sammler kam 1957 in den Freundeskreis, nachdem Evelyn Richter sie während ihrer ersten Moskaureise zu den VI. Weltfestspielen der Jugend und Studenten kennenlernte. Sammler war zu diesem Zeitpunkt Meisterschülerin an der Akademie der Künste der DDR in Berlin. Da Reisen innerhalb Deutschlands noch möglich waren, konnten sich die vier Frauen besuchen. Evelyn Richter fotografierte mit Eva Wagner-Zimmermann in Hamburg. Am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, war sie zufällig in Ost-Berlin zu Besuch bei Christa Sammler und konnte heimlich einige Aufnahmen dieses historischen Tages machen. Seitdem sollten sich die Wege der vier Freundinnen für viele Jahrzehnte räumlich weiter trennen. Ihre emotionale Verbundenheit intensivierte sich hingegen.
Reportagen der drei Fotografinnen sowie Porträts, die sie von einander anfertigten, sind in der Ausstellung zu sehen. Von Christa Sammler werden kleine skulpturale Werke gezeigt, deren Entstehung Richter fotografisch festhielt. Das bis heute komplett unbekannte künstlerische Œuvre der Fotografin Eva Wagner-Zimmermann, der neben Ursula Arnold dritten wichtigen Kommilitonin, Freundin und langjährigen Wegbegleiterin von Evelyn Richter, wird im Rahmen der Ausstellung erstmals in einer Auswahl vorgestellt.
Am Beispiel der vier Freundinnen, die stets im engen Kontakt blieben, wird deutlich, unter welchen gesellschaftspolitischen Bedingungen Frauen ihrer Generation künstlerisch tätig sein konnten.
Die Ausstellung ist eine Kooperation mit dem Kunstpalast, Düsseldorf, und dem Evelyn Richter Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im MdbK.
Das Evelyn Richter Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im Museum der bildenden Künste Leipzig wurde am 12. November 2009 gegründet. Den Grundstock bildet das von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung erworbene Konvolut der wichtigsten Werkgruppen der Fotografin. In enger Zusammenarbeit mit Evelyn Richter wurde das Archiv bis zu ihrem Tod um Dokumente, Bücher und Fotografien erweitert. Anhand der über 900 Motive lässt sich ihr künstlerisches Konzept und ihre Arbeitsweise studieren. Die Arbeit des Archivs ist durch die grundlegenden musealen Aufgaben Sammeln, Bewahren, Erforschen und Vermitteln bestimmt. Im Sommer 2016 erweiterte die Sparkassenstiftung das Archiv mit dem Ursula Arnold Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im Museum der bildenden Künste Leipzig um eine weitere bedeutende Stimme der dokumentarisch-künstlerischen Fotografie. In enger Zusammenarbeit mit Andreas Arnold, dem Sohn der Fotografin, konnte das gesamte Œuvre der Künstlerin erworben werden.