Hansestadt Rostock, 20.09.2024. Gemeinsam mit Susanne Bowen, Staatssekretärin Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Eva-Maria Kröger, Oberbürgermeisterin der Hansestadt Rostock, und Patricia Werner, Geschäftsführerin der Ostdeutschen Sparkassenstiftung, eröffnete Dr. Jörg-Uwe Neumann, Leiter der Kunsthalle Rostock, zwei Sonderausstellungen. Zum Auftakt der von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der OSPA-Stiftung geförderten dreiteiligen Ausstellungsreihe Künstlerinnen und Wahrnehmung widmet die Kunsthalle Rostock der renommierten Zeichnerin und Druckgrafikerin Inge Jastram (*1934) anlässlich ihres 90. Geburtstages eine erste umfassende Retrospektive.
„Inge Jastram hat über Dekaden hinweg einen unverwechselbaren Beitrag zur hiesigen Kunstszene geleistet. Ihre Arbeiten sind nicht nur ein Abbild ihrer Zeit, sondern auch Ausdruck einer tiefen Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz. Sie erneut ins Rampenlicht zu rücken, ist eine dringende Notwendigkeit“, sagte Dr. Jörg-Uwe Neumann zur Eröffnung.
„Die Lebensleistungen von Künstlerinnen aus Ostdeutschland in der Zeit zwischen 1945 und heute sichtbar zu machen, ist einer der Förderschwerpunkte der Ostdeutschen Sparkassenstiftung. Deshalb unterstützen wir gemeinsam mit der OSPA-Stiftung diese Ausstellungsreihe. Wir freuen uns, mit den Verantwortlichen der Kunsthalle Rostock verlässliche und kompetente Partner gefunden zu haben, diesen Themenschwerpunkt professionell in die öffentliche Wahrnehmung zu bringen“, hob Patricia Werner hervor.
Seit sieben Schaffensjahrzehnten die menschliche Figur im Fokus
Im Zentrum von Inge Jastrams Œuvre steht bis heute die menschliche Figur. Ihre freien grafischen Blätter erfassen ein breites Spektrum menschlicher Erfahrungen und Emotionen. Frauen, Kinder, Paare, Artisten und Clowns bevölkern ihre Arbeiten. Mit beeindruckender Präzision und kritischem Blick strebt sie danach, ihre Figuren in ihrer unverstellten Gestalt zu erfassen – als Individuen und soziale Wesen, bewegt von inneren Konflikten, zeitlosen Emotionen und tiefgreifenden Erfahrungen. Auf diese Weise zieht sie die Betrachtenden unweigerlich in ihren Bann und lädt sie ein, hinter die äußere Fassade zu blicken.
Eine Retrospektive als Zeitdokument
Die Ausstellung zeichnet den Lebensweg und das künstlerische Schaffen von Inge Jastram nach, deren Entwicklung eng mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Sie umfasst frühe Werke aus Inge Jastrams Studienzeit, biografische Dokumentationen, Reproduktionen ausgewählter baubezogener Arbeiten und eine große Auswahl freier grafischer Arbeiten. Darunter mehrteilige großformatige Radierungen, die ihr Können als Zeichnerin eindrucksvoll unter Beweis stellen.
„Vom Licht ins Dunkel, vom Dunkel ins Licht“
Inge Jastram wird einer jüngeren Künstlerkollegin, der 1982 geborenen Christin Wilcken, gegenübergestellt. In ihrer Einzelausstellung werden 15 Werkserien mit etwa 100 Einzelwerken, die seit 2011 entstanden sind, vorgestellt. Die Zeichnerin überführt künstlerische Themen der Naturerfahrung seit der Romantik in eine zeitgenössische Bildsprache und erweitert die Grenzen der Zeichnung durch experimentelle Formate, die den Raum und die Betrachterposition einbeziehen. Sie geht dabei stets von einer Naturerfahrung aus, doch bildet diese nicht ab, sondern erfindet sie neu.
Um die Fantasie der betrachtenden Personen zu aktivieren, verzichtet sie weitgehend auf Farbigkeit. Stattdessen setzt sie sanften Schimmer, die Spiegelung des Umgebungslichtes und ein breites Spektrum an Schwarztönen ein. Im tiefsten Schwarz entsteht in diesen Zeichnungen oft das Licht, so wie in der Natur aus dem Nichts immer wieder neues Leben entsteht. Sie zeigt uns Dunkelheit, Dämmerung und Zwielicht als Zustände, die Selbstreflexion erlauben und zugleich Ausgangspunkt von Poesie und Schöpfung sein können. Wer ihren Werken folgt, erlebt das Verhältnis von Mensch und Natur nicht mehr als Gegensatz, sondern sich selbst als Teil davon.
Bereits 2011 wurde der jungen Künstlerin ein Katalog in der Reihe „Signifikante Signaturen“ der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gewidmet.
Künstlerinnen der DDR eine doppelte Benachteiligung
Mit den Ausstellungsprojekten soll zusätzlich auf die doppelte Benachteiligung von Künstlerinnen wie Inge Jastram nach der Wende aufmerksam gemacht werden. Neben der historischen Benachteiligung von Frauen in der Kunstgeschichte kam für Künstlerinnen aus der DDR eine weitere Erschwernis hinzu: Durch den Zusammenbruch des staatlichen Kunstsystems und den nach der Wende entfachten Bilderstreit, etwa durch Äußerungen wie „Es gibt keine Künstler in der DDR“ von Georg Baselitz, wurden ihre künstlerischen Leistungen von der Fachwelt zunächst oft pauschal diskreditiert und fanden zunächst kaum Beachtung.
Die Ausstellungsreihe „Künstlerinnen und Wahrnehmung“ möchte daher diesen Missstand entgegenwirken und die Leistungen von Künstlerinnen in der Vergangenheit und Gegenwart sichtbar machen. 2025 und 2026 sollen dann die Künstlerinnen Kate Diehn-Bitt (1900–1978) und Susanne Kant-Horn (1914–1996) folgen.